FCI Agility Weltmeisterschaft 2022 im österreichischen Schwechat
Stefanie Simson betritt mit Bibi den Rasen. Bibi ist nicht ihr eigener Hund; er gehört einem ihrer Trainingsteams, aber sie haben in den vergangenen Monaten zusammen trainiert und sich nicht unerwartet für die Teilnahme an der Weltmeisterschaft qualifiziert. Der Richter pfeift und gibt den Parcours frei. Kurz darauf gibt Stefanie das Zeichen: Die angestaute Energie entlädt sich. Bibi springt über die Starthürde. Der Sheltie weiß genau, was bei jedem Gerät zu tun ist. Er schlängelt sich durch den Slalom, rennt durch den Tunnel, nimmt die Wippe und balanciert über den Laufsteg. Der Parcours ist beinahe geschafft. Das Publikum wird unruhig, beginnt zu klatschen. Als Bibi die Zielhürde passiert, ist der Jubel groß: mit 40,36 Sekunden schiebt sie sich auf Platz 5 hoch. Ob das für einen Platz auf dem Treppchen reicht? Für die Gesamtwertung wird die Zeit aus beiden Läufen addiert: zu der Zeit aus diesem Agility-Lauf kommt also noch die aus dem Jumping am Tag zuvor dazu.
Vier spannende Agility-Tage
Vier Wettkampftage hat eine Weltmeisterschaft. In diesem Jahr fand diese vom 22. bis 25. September im österreichischen Schwechat statt. Mehr als 460 Hunde haben sich für die Teilnahme qualifiziert und sind mit ihren Hundeführern angereist. Eigentlich hätte die Veranstaltung in Moskau stattfinden sollen, wurde jedoch bereits im März nach Österreich verlegt. Einen Tag vor Wettkampfbeginn durchlaufen alle Hunde noch einen Veterinär-Check, bei dem sich die Tierärzte im zehnminütigen Abstand die gemeldeten Hunde ansehen. Ebenso zackig geht es bei dem Training weiter. Jedes Team hat nur wenige Minuten, auf der Wettkampffläche alles noch einmal durchzugehen und sich mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen. Der Rest muss sitzen!
38 Nationen haben Teams entsandt. Viele europäische Sportler sind dabei, auch Ukrainer. Und auch aus Übersee sind sie angereist, aus den USA, aus Kanada, Brasilien und sogar aus Argentinien und Kolumbien. Südafrika und Korea vertreten ihre Kontinente. Deutschland ist mit zwölf Sportlern angereist, die sich in mehreren VDH Qualifikationsläufen durchgesetzt haben. Beim Agility muss es schnell gehen: In dem extrem rasanten Sport entscheiden Sekundenbruchteile über den Sieg. Die besten Hundeführer der Welt haben ihr Können gezeigt.
Erst Jumping, dann Agility
Nach Stefanie Simson ist der Brite Martin Reid an der Reihe, denn die Startreihenfolge im Agility-Lauf hängt von der Platzierung des Jumpings ab: dem Regelwerk zufolge starten die Teilnehmer in umgekehrter Platzierungsreihenfolge: die disqualifizierten Teilnehmer zuerst, Stefanie Simson als Zweite im Jumping nun als Vorletzte. Dann sind die Gesamtergebnisse aus beiden Läufen da: Mit insgesamt 71,89 Sekunden landet Stefanie Simson mit Bibi auf Platz 1 in der Klasse SMALL für Hunde mit einer Widerristhöhe bis maximal 35 Zentimetern und sichert damit den ersten Titel für Deutschland. Von diesem Titel, der für ihn und seine Dörte nach 2017 und 2019 der Dritte gewesen wäre, hatte auch Tobias Wüst geträumt. Doch leider war dieser schon nach dem Jumping ausgeträumt. Agility ist eben ein extrem rasanter Sport! Im A-Lauf legten beide dann trotzdem nochmal die Bestzeit hin.
In der Klasse MEDIUM für Hunde mit einer Widerristhöhe zwischen 35 bis 42,99 Zentimetern scheinen derzeit Daniel Schröder mit Cashew und Silas Boogk mit Beam das Maß der Dinge zu sein. Beide liefern sich Duelle auf Augenhöhe und wechseln sich scheinbar mit den Titeln ab. Der Weltmeistertitel 2022 geht an Daniel Schröder, der mit Cashew schon 2017 gewonnen hatte. Der Titelverteidiger Silas Boogk wird mit Beam Vizeweltmeister.
In der Klasse LARGE für Hunde mit einer Widerristhöhe ab 43 Zentimetern gewinnt der Franzose Kevin Odile mit Move. Sabine Kreutz hatte mit Foo das Jumping gewonnen, leider liefen aber alle drei Deutschen im A-Lauf dann ein "DIS".
Sekundenbruchteile entscheiden
Die Weltspitze im Agility ist eng gedrängt. Die Top-10 liegt nur Sekunden auseinander, die Top-5 sogar Millisekunden. Fehler, die bei Geschwindigkeiten der Hunde von bis zu sechs Metern pro Sekunde schnell passieren können, entscheiden über Gewinnen oder Verlieren. Die Hundeführer müssen die Situation in Sekundenbruchteilen erfassen und entsprechende Kommandos geben, der Hund muss ebenso schnell reagieren. Körperliche Fitness ist für beide daher ebenso wichtig wie Reaktionsschnelle.
Auch von der Vorbereitung direkt vor dem Lauf hängt viel ab. Etwa eine Stunde vor dem Wettkampf bekommen die Teamchefs die Parcoursskizzen ausgehändigt. „Dort zeichne ich als erstes die Laufwege ein, weil dabei die kritischen Stellen bereits klar werden“, erklärt Alexander Beitl, Chef der deutschen Nationalmannschaft. „Dann fotografiere ich sie und stelle sie in die WhatsApp-Gruppe unseres Teams, weil auf Wettkämpfen immer alle irgendwo verstreut sind. Anschließend schauen wir uns den Parcours von oben an und beratschlagen. Außerdem bin ich dabei, wenn der Parcours zum Begehen freigegeben ist.“ Dann geht er ihn gedanklich aus Teilnehmer- und Richtersicht durch.
Reiz des Unerwarteten
Beitl steht seiner Mannschaft mit Rat und Tat zur Seite, drängt sich aber nicht auf. „Alle Hundeführer haben jahrelange Erfahrung und wissen selbst am besten, wie sie mit ihrem Hund und dem Parcours umzugehen haben.“ Teambildung gehört für ihn im Vorfeld ebenso dazu, wie die Stärken und Schwächen jedes Sportlers zu kennen. Die einen brauchen Ruhe vor dem Lauf, andere brauchen eher Ablenkung. Ein bisschen Glück gehört trotzdem dazu. Nicht selten kommt es vor, dass eine Stange zwar wankt, aber doch nicht fällt.
Genau dieser Nervenkitzel ist es, was Agility für Stefanie Simson ausmacht. „Ich habe ursprünglich mit Turnierhundesport angefangen. Dort weiß man genau, was als nächstes kommt. Agility ist immer neu, immer anders. Alleine, ob der Hund eine kleine oder eine große Wendung läuft, verändert die Situation. Das macht den Reiz aus“, schwärmt Weltmeisterin Stefanie Simson.
Knackige Parcours
Für die FCI Agility-Weltmeisterschaft 2022 haben die Richter Jan Egil Eide aus Norwegen und Bernd Hüppe aus Österreich auf jeden Fall spannende Parcours konzipiert. Jeder der Beiden hat dabei seine eigenen Vorlieben:
„Jans Parcours haben oft lange Laufstrecken und sind eher auf Schnelligkeit ausgelegt. Bernd baut hingegen gerne technisch anspruchsvolle Parcours, die schwierige Stellen enthalten und für die sich die Hundeführer richtig ins Zeug legen müssen“, weiß Beitl. So auch diesmal: Die Hundeführer mussten ihre Hunde teilweise weit auf Distanz schicken, um sie zum richtigen Gerät zu leiten. Da sind Fehler schnell passiert. Seinen Agility-Parcours für die Klasse „Large“ haben nur elf Sportler fehlerfrei beendet, 19 mit Fehlern und 96 wurden disqualifiziert. Das ist zu viel, fanden zahlreiche Sportler und haben sich im Nachhinein kritisch zum Schwierigkeitsgrad in den sozialen Netzwerken geäußert. Die Deutsche Nadine Alshut, die selbst ihre Schwierigkeiten hatte, sieht das anders: „Entgegen vieler anderer Meinungen mochte ich den Parcours! Er war einer Weltmeisterschaft würdig“, schrieb sie auf ihrer Facebook-Seite.
Zwei Medaillen im Team
Am Ende steht Nadine Alshut trotzdem auf dem Treppchen: zusammen mit Tobias Wüst, Christian Prinz und Sabine Kreutz als Bronzemedaillen-Gewinnerin in der Klasse LARGE. Auch für die Kollegen in der Klasse MEDIUM läuft es gut: trotz zwei Fehlern holt das Team um Daniel Schröder, Silas Boogk, Krisztina Beitl-Kabai und Johann Weberling dank der schnellen Zeit den Weltmeistertitel nach Deutschland.
Treue Fans und eine Bombenstimmung
„Wenn man da unten auf dem magischen grünen Teppich steht, ist das ein besonderes Erlebnis“, schwärmt Stefanie Simson. Eine solche Veranstaltung lebt von der Stimmung und die war super. Nach zwei Jahren Corona-bedingter WM-Pause war die Vorfreude unter den Agility-Fans riesig; schon im Juni waren alle Tickets für das 2.000 Zuschauer fassende Stadion ausverkauft.
Das Multiversum in Schwechat ist eine kleine, aber moderne Halle. Alexander Beitl mag das: „Lieber ein kleiner, aber dafür gut gefüllter Veranstaltungsort, als ein riesiges Stadion, in dem sich die Zuschauer verlaufen und keine Stimmung aufkommt.“ Zudem bezweifelt er, dass künftig noch geräumige Austragungsorte für viele Zuschauer nötig sein werden. Denn Corona hat auch den Agility-Sport verändert. „Die Pandemie hat die Qualität der Lifestreams enorm verbessert. Früher gab es teilweise sekundenlange Aussetzer, heute laufen sie überwiegend flüssig und ruckelfrei. Jetzt kann man eine Agility-Weltmeisterschaft auch zuhause vom Sofa aus erleben und muss nicht unbedingt eine weite Anreise auf sich nehmen.“
Das ist auf jeden Fall eine Option, wer im nächsten Jahr nicht zur Weltmeisterschaft nach Tschechien anreisen möchte. Sie wird im Oktober 2023, wie schon 2012 und 2017, in der Home Credit Arena in Liberec stattfinden. In der Home Credit Arena Liberec finden bis zu 9.000 Zuschauer auf den Tribünen Platz. Deutlich mehr also als in diesem Jahr, aber dennoch: beste Stimmung ist schon jetzt garantiert.
Neue Klasse ab 2023
Alexander Beitl ist gespannt, wie die kommende Weltmeisterschaft verlaufen wird. Von Januar an wird im Agility eine neue Prüfungsordnung gelten, die zahlreiche Änderungen enthält. Darunter: die Einführung einer zusätzlichen Größenklasse, die sogenannte Intermediate. Sie spaltet die bisherige Klasse LARGE auf und ist für Hunde mit einer Widerristhöhe zwischen 43 und bis 47,99 Zentimeter gedacht. Die Klasse LARGE fängt dann erst ab einer Widerristhöhe von 48 Zentimetern an.
Zudem dürfen dann nicht mehr nur neun Hunde pro Nation gemeldet werden, sondern zwölf. „Das sind 33 Prozent mehr Teilnehmer. Das ist eigentlich an vier Wettkampftagen gar nicht mehr leistbar.“ Doch bis es soweit ist, ist für das deutsche Team erstmal Feiern angesagt.