Hierzulande steht es um unsere vielgerühmte „Work-Life-Balance“ reichlich unrühmlich, schenkt man wissenschaftlichen Studien Glauben. Im Schnitt denkt die überzeugende Mehrheit aller Studienteilnehmer, mehr arbeiten zu müssen als sie wollen oder dauerhaft bewältigen zu können. Keine gute Basis für die notwendige Erholung. Leben im „Hamsterrad“ – und dann noch einen Hund im Sport führen?
Für das Leben der Hundesportler gibt es solche Studien noch nicht, obwohl „Dog-Life-Balance“ als Ableitung des populären Modebegriffs zunehmend in den Fokus der Hundlerwelt gerät. Blogartikel, Kurse und Workshops zur „Harmonie im Mensch-Hund-Team“ lassen sich gut vermarkten. Entschleunigung, Achtsamkeit, qualitative Beschäftigungsmodelle - es besteht eindeutig Bedarf!
Jetzt gehören unsere vierbeinigen Sportkameraden äußerst selten zum Bereich Broterwerb; viel mehr konkurrieren die Bedürfnisse des Hundes mit denen unserer meist ohnehin unausgewogenen Freizeitgestaltung. Denn auch ein Hund benötigt Verbindlichkeiten, manche sogar ziemlich ausufernd!
Bestenfalls zählt der Hund als adoptiertes Familienmitglied und partizipiert von unserem organisatorischen Talent, „Job und Familie“ unter einen Hut zu bekommen.
Auch in unseren Hundesportvereinen stößt man recht schnell auf einen Chorus von „zu viel Hundesport“; „das Familienleben leidet unter der Prüfungsvorbereitungszeit“; „mein/e Lebensgefährte/in beklagt, ich investiere zu viel Zeit“; und so weiter.
Wer kennt diese Konflikte nicht? So ganz zuträglich für eine gute Balance scheint der Faktor Hundesport also auch nicht zu sein. Dem entgehen stehen allerdings Familien, die gemeinsam ihrem Hobby frönen und dabei sehr zufrieden wirken – trotz Arbeit, Haushalt und Freundeskreis. Selbstbetrug – oder schlichtweg gutes Gefühl für Lebensgleichgewicht?
In der aktuellen Krise ist das Vereinsleben und der hochfrequente Prüfungs- und Trainingsbetrieb größtenteils zum Erliegen gekommen. Auch der Stressor „Arbeitsplatz“ lastet dank Home-Office und technischer Übertragungslösungen für viele nicht mehr durch lange Arbeitswege und Abwesenheit auf dem Familienleben. Was für eine Erleichterung, wenn der Hund plötzlich nicht mehr allein gelassen oder in bezahlter Betreuung untergebracht werden muss!
Doch ganz so einfach lässt sich diese Problematik nicht lösen: 2020 fand Atlassin bei einer großangelegten Studie heraus, dass sich die Stressoren durch fehlende Grenzen zwischen Beruf und Privatleben einfach verlagern, statt aufzulösen. Und wer zuvor schon Schwierigkeiten mit der Organisation hatte, wirkt jetzt ohne Hundesportverein auch nicht zufriedener.
„Work-Life-Balance ist ein Mythos“, behauptet der Diplom-Volkswirt Jochen Mai, Dozent an der Technischen Hochschule Köln. Für ihn sei der Begriff eine „Mogelpackung“, da es die suggerierten Extrempole „Leben“ und „Arbeiten“ so nicht gäbe: „Wer arbeitet, lebt – da gibt es keinen Gegensatz“, schreibt er auf karrierebibel.de. Wenn Leben und Arbeit „wunderbar symbiotisch miteinander verbunden“ sein können, sollte dies doch auch für Hundesport gelten? Haben die Selbstoptimierungstrainer etwa recht mit ihren To-Do-Listen, Prioritätenaufstellungen und hübsch designten Kalendern? Brauchen unsere Sporthunde ein minutiös optimiertes Programm?
„A FOOL WITH A TOOL IS STILL A FOOL.“ BONMOT
Was für die Ausbildung unserer Vierbeiner gilt, lässt sich problemlos auf das Thema „Dog-Life-Balance“ übertragen – wer im Sport mit seinem Hund persönliche Befriedigung findet, braucht wenig zusätzliche Erholung! Viel mehr die Einstellung bestimmt darüber, nicht der „Stundenplan“.
Es gibt keine Patentlösungen mit Zertifikat „100% ausgeglichen nach Zahlungseingang“. Kein Workshop oder Lehrbuch enthebt uns von der Selbstverantwortung, unseren Lebensstil zu reflektieren und eine proaktive Haltung zu Belastungsfaktoren zu entwickeln. Dazu gehört auch der Umgang mit den „Hundebedürfnissen“: Wie bewusst sind wir uns darüber, was wir warum mit unserem Hund tun und ob das überhaupt so sein müsste? Basiert unser Miteinander auf empathischer Wahrnehmung der Reaktionen oder auf „weil man das halt so macht“? Diese Art von Selbstreflexion lohnt sich.
Auch physikalisch bedeutet Gleichgewicht keinesfalls Stillstand oder Reduktion um jeden Preis. Viel mehr geht es darum, natürlich auftretende Schwankungen auszugleichen. Unser Organismus basiert auf einem komplexen Regulationssystem, das auf Stresszustände mit Bewältigungsstrategien und regenerativen Entspannungsphasen reagiert. Und dieser ausgeglichene Wechsel zwischen Stress und Regenerationsmöglichkeit erlaubt erst einen anpassungsfähigen Kreislauf, ein funktionierendes Immunsystem und die Versorgung unserer Muskulatur. Wir sind rhythmische Wesen, keine statischen Bauteile unserer Umwelt. Das müssen wir unseren Mitlebewesen auch zugestehen!
„Nur wenn wir Arbeit als normalen Teil unseres Lebens begreifen und zusammen mit anderen Bereichen im Blick haben, können wir eine echte, individuell passende Balance erreichen und bewahren“,
behauptet Jochen Mai. So bedeutet sportliche Belastung mit Erfolgserlebnissen eine messbare Spannungsreduktion und Abbau von Stresshormonen. Selbst angehende Diensthunde der Bundeswehr mit Zwingerhaltung und Fremdbetreuung profitierten in einer Studie von der sicherlich anspruchsvollen Ausbildung zu Schutzhunden: Das Training wirkte ausgleichend, nicht – wie erwartet – als zusätzlicher Stressor (S. Pauly, 2007).
Genau so verhält es sich auch mit dem Berufsleben: „Broterwerb“ ist nicht immer mit Freude verbunden. Viele Arbeitnehmer, aber auch Arbeitgeber leiden unter Unzufriedenheit, Zukunftsängsten, Überforderung. Nicht immer lassen sich die Gründe dafür beeinflussen. Jedoch ist genau dieser vermeidliche Belastungsfaktor für sehr viele Menschen auch eine Notwendigkeit, um ihr Selbstwertgefühl und persönliche Identifikation aufrecht zu erhalten. Und nicht nur, um den Geldbeutel zu füllen. Auch Hunde suchen sich „Aufgaben“, denen sie oft mit erstaunlicher Vehemenz nachgehen. Wäre es da nicht sinnvoll, in einer geeigneten Sportdisziplin eine gemeinsame Leidenschaft zu finden?
Wir können unsere Einstellung ebenso beeinflussen wie unsere Entscheidungen – und wenn Hundesport für uns eine wichtige Ressource zur persönlichen Ausgeglichenheit darstellen kann, dürfen wir unser Leben nicht danach ausrichten?
Dürfen wir nicht Hunde halten, deren „Arbeit“ der Sport ist und die davon profitieren, dass uns dieses gemeinsame Werk zufrieden macht?
Quellenangaben:
- Pauly, Silke (2007): Belastung von angekauften Diensthunden durch die Haltung und die Grundausbildung im Schutzdienst. Dissertation, LMU München: Tierärztliche Fakultät;
- Collatz & Gudat: Praxis der Personalpsychologie, 2011);
- Work-Life-Balance, karrierebibel.de Jochen Mai; Wirtschaftspsychologie 2007,
- "Work-Life-Balance" Bettina S. Wiese; https://aisel.aisnet.org/aiswn2020/4/; https://www.atlassian.com/blog/teamwork/data-analysis-length-of-workday-covid