Hündische Bewältigungsstrategien in Konfliktsituationen
Zur konzeptionellen must-have Ausrüstung eines Hundetrainers gehört im Jahre 2022 die „waschechte“ Beherrschung der kaniden Konfliktbewältigungsstrategien in theoretischer Ausführung – salopp abgekürzt als 4 F’s: FIGHT – FLIGHT – FREEZE – FIDDLE.
Manche sprechen gar von einer fünften Dimension, dem FAINT – dies sei aber bei Hunden gar nicht zu beobachten. Aber existieren tue sie, die reaktive Ohnmacht. Zumindest bei Ziegen. Als Gen-Defekt. Vielleicht auch bei Hunden in Todesangst. Oder doch nur im Labor? Wenigstens der Vollständigkeit halber. Außenstehende verstehen bei dieser F-Reihenschaltung sowieso nur Bahnhof oder zücken bestenfalls den Schraubenzieher, um dem technischen Problem zu Leibe zu rücken.
Gemeint sind instinktive Verhaltensweisen auf stressige oder bedrohliche Situationen – ein Hund kann quasi KÄMPFEN, FLÜCHTEN, ERSTARREN oder sogenannte „Übersprungshandlungen“ zeigen.
Wer diese Reaktionen nicht erkennen und seine Maßnahmen blitzschnell darauf auszurichten vermag, versagt als Hundetrainer!
Und auch im Sport will man massenhaft unerwünschte „F’s“ erkennen – ein vernichtendes Urteil über die Sinnhaftigkeit und auch die Qualität des Trainings. Denn dann bedeute die jeweilige Situation ja Stress oder gar eine Bedrohung für den Hund, sonst würde er nicht in das Bermudadreieck der 4 F’s abrutschen. Kynologische Weiterbildungseinrichtungen bauen im Bereich Aggression und Konfliktbewältigung auf das bewährte Fundament dieser Signale, denn wie von Zauberhand lässt sich der Grad drohender Traumatisierung daran ablesen. Und um die Verwirrung zu perfektionieren, werben manche Trainer gar damit, den armen, minderbelichteten Vierbeinern durch ihre Methodik zu „besseren“ Konfliktstrategien verhelfen zu können: Knigge in hündisch.
Zur Beruhigung nun eventuell aufwallender Gemüter sei anzumerken, dass ein guter Trainer selbstverständlich empathisch dazu in der Lage sein muss, sein Training an den aktuellen Zustand des Hundes anzupassen. Dazu gehört auch das Erkennen sogenannter „Coping-Strategien“ und ein situatives Einschätzen derer Bedeutung. Diese Verhaltensweisen können auch durchaus ein stressbehaftetes F beinhalten – nämlich dann, wenn die Coping-Strategien nicht ausreichen. Und ganz aus der Luft gegriffen ist diese Einordnung natürlich nicht.
Schwieriger wird es jedoch beim wissenschaftlichen Anspruch, der regelmäßig zur dogmatischen Legitimation erhoben wird: "Böse Zungen" erwähnen dann frappierende Parallelen zum Hype der „Calming Signals“ vergangener Jahrzehnte und des daran gekoppelten Frust-Erwachens, dass Hunde doch nicht ganz so heiß beschwichtigen, wie wir es in unserer Interpretation gekocht haben. Brauen wir uns also eine neue Suppe der Überinterpretation oder missverstehen wir gar die instinktiven Stressreaktionen unserer Vierbeiner?
schnell erklärt:
Stressreaktionen (Fight-Flight-Freeze):
sind systemische Überlebensreaktionen auf eine Bedrohung und/oder eine akute Gefahrenwahrnehmung
Coping-Strategien = Bewältigungsstrategien
sind erlernte Handlungsweisen, die den Umgang mit Stress, belastenden Situationen und Angsterleben erleichtern
Calming-Signals = Beschwichtigungssignale
sind soziale Gesten und Signale, die dem Gesprächspartner das eigene Unbehagen oder die Sorge vermitteln sollen, eine drohende Eskalation abzuwenden. Dabei handelt es sich um drei völlig unterschiedliche Kategorien, die jedoch ebenso munter wie fälschlich unter „4 F’s“ zusammengefasst werden.
Die „4 F-Affäre“ – ein begriffliches Dilemma?
Das Dilemma beginnt schon bei der Definition.
Populärkynologische Erklärversuche dieser mysteriösen Konfliktbewältigung leiten zumeist damit ein, dass der Hund aus Unwohlsein oder sich-bedroht-Fühlens in unwillkürliche Verhaltensprozesse rutsche. Sein sogenanntes „Reptilienhirn“ übernähme die Steuerung und mache eine bewusste Beeinflussung unmöglich. Damit ist der Mensch quasi „raus“ und auch der Hund weiß nicht mehr, was er tut, beziehungsweise verfällt wahllos in eins der vier Verhaltensmuster. Dieser Zustand sollte natürlich vermieden werden. Frühprävention ist das Stichwort – oder?
Bereits hier zeigt sich die argumentative Dürftigkeit, denn in diesem Zustand könnte ein Hund während eines Konflikts keine lohnenswertere Strategie wählen oder Risiko gegen Erfolg abwägen – diese kognitiven Prozesse laufen hauptsächlich in Bereichen des Frontallappens ab, populistisch als „Denkerhirn“ bezeichnet. Operiert der Hund also nur noch mit seinem „Reptilienhirn“, könnte er nicht von einer „unwillkürlichen“ Bewältigungsstrategie in die andere wechseln und wäre bei rasch veränderten Ausgangssituationen hoffnungslos aufgeschmissen. Evolutionär also eher ein Garant für baldiges Aussterben der Art – vor allem in unserem Lebensraum - und da nutzt auch der geschäftstüchtigste Hundetrainer nichts mehr. Diese gehen indes so weit, bei jeder „unerwünschten“ Reaktion auf Alltagsreize von 4 F’s zu schwadronieren. Als hätten wir affekt- und impulsgestörte Stressbolzen an der Leine, die morgens aufstehen und sich ganztägig vom Tod bedroht fühlen (was es durchaus geben mag, aber eben nicht in diesem Umfang).
Möchte man also Konfliktstrategien beschreiben, bräuchte es vorher eine Definition des konkreten Rahmens: zeigen sich die 4 F’s lediglich in einem normalerweise seltenen „Out-of-order“-Zustand oder bereits lange vorher, wenn es nur um ein Gefühl des Unwohlseins oder eines Interessenkonflikts geht? Sprechen wir über strategische Coping-Entscheidungen oder über unwillkürliche Stressreaktionen? Wer diese Parameter durcheinander wirft, argumentiert auf fachlichem Treibsand.
Noch mehr Verwirrung verursacht der Umstand, dass den 4 F’s ganz verschiedene Anglizismen zugeordnet werden und niemand festlegen kann, welche denn nun offiziell gelten:
FIGHT (kämpfen) – FAWN (schleimen) – FLIRT (flirten) – FIDDLE (tricksen) – FRIGHT (erschrecken) – FIDGET (herumzappeln)
Über das FIGHT sind wir uns weitestgehend einig. Die drei ersten F’s lassen sich auch relativ einfach erklären und sind in der Verhaltensbiologie zudem gut belegt, da klar beschreibbar (übrigens auch bei uns Zweibeinern). Bei der Nummer vier kocht sprichwörtlich jeder seine eigene Suppe, denn das FIDDLE lässt sich beliebig ersetzen und ergänzen, wie es gerade in die Situation passt. Aus argumentativer Dürftigkeit wird gähnende Leere: es existiert keinerlei wissenschaftlicher Konsens in Form einer konkreten Verhaltensbeschreibung.
Gemeint hingegen ist ein Reaktionsmuster, das irgendwo zwischen unvermitteltem Spielverhalten, neurotischem Übersprung, sexuellen Avancen, aktiver Unterwerfung und ziellosen motorischen Zappeleien oszilliert. Kennt jeder, hat jeder schon mal beobachtet – und das soll dann eine „instinktive“ Karte sein zwischen Kampf, Flucht oder Erstarren. Und ja, eventuell noch Ohnmacht.
Tatsächlich handelt es sich bei diesen Verhaltensweisen wahrscheinlicher um individuelle Coping-Strategien und diese zeigen sich auffallend häufig im Umgang mit Artgenossen – aber selten gegenüber Artfremden und noch seltener gegenüber wirklich bedrohlichen Reizen. Also gerade nicht in dem Kontext, der instinktiven Stressreaktionen zugeschrieben wird. In der Humanpsychologie umschreibt „Fawning“ eine sozial motivierte Form von Unterwerfung. Allerdings innerartlich! Die damit verknüpften Motive lassen sich zudem schwer auf Hunde übertragen – wir können dem beobachteten Verhalten schlichtweg keine konkreten Gedanken oder Gefühle zuordnen. Statt zu dramatisieren, müssten wir die Beobachtung auch von unbeholfenen Kommunikationsversuchen abgrenzen.
hinterfragt: Wie dramatisch ist eine gezeigte „Stressreaktion“?
Entwickelt hat sich die ursprüngliche „FIGHT-FLIGHT“-Theorie bereits während des Ersten Weltkriegs durch die Arbeit von Walter Cannon, der traumatische Schockreaktionen untersuchte. Heutzutage wissen wir unter anderem, dass unzureichende Sozialisation einen erheblichen Risikofaktor darstellt, während eigentlich „normalem“ Stresserlebens nachhaltig den Kopf zu verlieren. Das „Stresssystem“ konnte sich nicht ausreichend belastbar entwickeln und springt zu schnell an, was Energie verbraucht, die kognitiven Fähigkeiten einschränkt und zudem negative Wahrnehmungen begünstigt. Dabei handelt es sich jedoch um eine behandlungsbedürftige Störung und nicht den Normalzustand eines gesund entwickelten Hundes, der eventuell (für Dritte) destruktive Coping-Strategien gelernt hat.
Es ist also nicht jeder Mensch und auch nicht jeder Hund gleich anfällig. Zudem sind diese systemischen Prozesse keineswegs pathologisch – es sind Überlebensfunktionen, die der körpereigenen Homöostase dienen. Das können sie jedoch nur, wenn der Organismus den Umgang damit lernen darf – denn auch das endokrine System verkümmert, wenn es unverhältnismäßig geschont wird. Zu einer Störung kommt es dann, wenn diese Aktionssysteme „außer Kontrolle“ geraten – und das tun sie nicht per se, weil sie „funktionsgemäß“ genutzt werden. Im Gegenteil fördert dies sogar die individuelle Resilienz. Schädlich sind langfristige Stressbelastungen ohne Regenerationsmöglichkeit oder ein extrem verstörendes Erlebnis, welches für den Hund nicht lösbar ist.
Kampf oder Flucht – Was steckt hinter Stressreaktionen?
Als Differenzierungshilfe lohnt sich ein Blick in andere Fachbereiche. Der Psychiater und Lehranalytiker Dr. Jochen Peichl befasst sich mit traumabasierten Störungen. Seine Veröffentlichungen unterteilen stressbedingte Reaktionsmuster nach sogenannten „Aktionssystemen“ – diese gehören entweder zu einer sympathikogenen (Fight-Flight-Freeze-Response) oder parasympathischen (Immobilisierung, Unter-werfung oder Totstellreflex) Erregung. Wichtig ist die Eingrenzung, dass es sich dabei um systemische Reaktionen auf Bedrohung und akute Gefahrenwahrnehmung handelt. Damit in Verbindung stehen körperliche (systemische) Alarmreaktionen, die extra Energie und Leistung für Flucht oder Kampf im Körper bereitstellen. Das grenzt die Rahmenbedingungen doch erheblich ein. Und auch hier wird unterschieden zwischen der Wahrnehmung einer artfremden Bedrohung und sozialen Belastungssituationen, die sich unter anderem auf Bindungserfahrungen auswirken.
Es würde sich also gerade in der Ausbildung von Hundetrainern lohnen, die 4 F’s wesentlich differenzierter zu beleuchten. Nicht jede Begegnung, die Spannung oder gar offen geäußerte Meinungsverschiedenheiten beinhaltet, muss zwangsläufig durch das Schlüsselloch potentiell traumatischer Bedrohungslagen betrachtet werden. Hunde wählen in expliziten Stresssituationen auch nicht „einfach so“ zwischen zur Verfügung stehenden Optionen und lassen sich von uns umstimmen, weil uns eine Option besser gefällt. „Instinktive“ Reaktionsweisen sind stark an Persönlichkeitsmerkmale, Erlebniswissen und aktuelle Verfassung des jeweiligen Organismus gebunden. Die Hunde sind auch nicht automatisch „out of control“ – denn auch dieser Zustand bahnt sich an und hat als natürlichen Gegenspieler die Selbstregulation. Es handelt sich letztendlich um hochkomplexe psychobiologische Vorgänge, denen die am Ende beobachtete Verhaltensweise nachfolgt.
Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen wir waschechte „Fight-Flight“-Reaktionen oder gar dissoziativ anmutendes Ergeben erleben. Das sieht nicht schön aus. Diese sind jedoch erheblich seltener, als der Hype um die 4 F’s ahnen lässt. Und wie bei jeder inflationären Nutzung laufen wir durch schiere Überreizung in Gefahr, diese Schwelle vor lauter Nebenschauplätzen zu verfehlen.
Quellen:
- Rottmaier, Fransi: BEAST GAME SERIES (2016) Konfliktmanagement & Selbstschutz
- www.ttouch.ca „The 5 F’s of Behaviour – Beyond Fight & Flight“ (kein Autor ausgeschrieben)
- Shafy, Samiha (2011) Spiegel Wissenschaft „Wenn die Hirnmasse schrumpft“
- Walter B. Cannon (1915/1975 aus dem Englischen): „Wut, Hunger, Angst und Schmerz: eine Physiologie der Emotionen.“
- Peichl, J. (2017) „Innere Kinder, Täter, Helfer & Co“ Klett-Cotta Verlag
- Gray, J. A. (1990). Brain systems that mediate both emotion and cognition. Cognition & Emotion, 4(3), 269–288.
- McGowan PO, Sasaki A, D'Alessio AC, Dymov S, Labonté B, Szyf M, Turecki G, Meaney MJ (March 2009). "Epigenetic regulation of the glucocorticoid receptor in human brain associates with childhood abuse". Nat. Neurosci. 12 (3): 342–8. doi:10.1038/nn.2270. PMC 2944040. PMID 19234457.
- Weaver IC, Cervoni N, Champagne FA, D'Alessio AC, Sharma S, Seckl JR, Dymov S, Szyf M, Meaney MJ (August 2004). "Epigenetic programming by maternal behavior". Nat. Neurosci. 7 (8): 847–54. doi:10.1038/nn1276. PMID 15220929.