Eine einzigartige Fähigkeit unserer Hunde vergleichbar mit menschlicher Inselbegabung
Situationskomik zwischen Wissenschaft und Praxis:
Vor ziemlich genau einem Jahr wurde in diesem Blog ein Beitrag mit dem Titel „Wenn Blinde von Farben sprechen“ veröffentlicht. Dieser befasste sich mit dem mühseligen Umgang eines „Großriechers“ – unseren bepelzten Sportkameraden – mit uns olfaktorisch doch reichlich minderbemittelten Augentieren. Vor allem im Hinblick auf die manchmal wahnwitzigen menschlichen Vorstellungen in Sachen Sport.
Prompt setzte die Wissenschaft einen drauf: laut neuesten Studienergebnissen können Hunde diese bislang rein anekdotisch gehaltenen Farben tatsächlich „durch die Nase sehen“. Der Blindenstock für uns Zweibeiner rückt – zumindest bei der Nasenarbeit – in greifbare Nähe!
Nicht jeder riecht gleich!
Um eine konkrete Vorstellung dieser verblüffenden Fähigkeit zu erlangen, muss man sich allerdings mit dem Geruchssinn selbst befassen. Denn der Geruch als solches besitzt keine Konstante, wie sie etwa die einzelnen Geruchsstoffe auf chemischer Ebene aufweisen. Er handelt sich vielmehr um eine Interpretation von Sinnesreizen. So gesehen dünstet nicht nur jeder einen unterschiedlichen Cocktail von Duftmolekülen aus – auch die Wahrnehmung dieser Stoffe wird im Gehirn des Gegenübers individuell kombiniert und verarbeitet. Und manchmal auch vorgetäuscht.
Bei uns ist mittlerweile gut erforscht, dass der für Gerüche zuständige Teil des Gehirns bereits aktiviert wird, wenn andere Sinneswahrnehmungen – beispielsweise der Sehsinn – auf einen bevorstehenden Geruchsreiz hinweisen. Wir assoziieren automatisch unsere persönlichen Erfahrungswerte mit allen zu verarbeitenden Sinneswahrnehmungen, dadurch können Gerüche Emotionen oder Erinnerungen aktivieren. Und deswegen lösen dieselben Geruchsmoleküle unterschiedliches Geruchserleben bei unterschiedlichen „Riechern“ aus – bis hin zur Einbildung eines Geruchs, weil wir ihn erwarten. Der nasse Hund muss also nicht so stinken, wie wir es aufgrund seines erbarmungswürdigen Zustandes glauben zu riechen!
Mit der Nase sehen?
Ein Forscherteam der Universität Cornell untersuchte mit einer fortschrittlichen Neuroimaging-Technik die sogenannten „Informationsautobahnen“ von Hundegehirnen – die weiße Substanz. Hier fanden sich uns Menschen ähnliche Vernetzungen zwischen dem Riechkolben, dem limbischen System und dem piriformen Kortex – welcher für die Verarbeitung von Erinnerungen und Emotionen zuständig ist. Diese Vernetzungen sind auch bei uns für das Geruchserleben verantwortlich. Allerdings stolperten sie dabei über bislang völlig unbekannte Verbindungsstrukturen zum Rückenmark und vor allem zum Okzipitallappen! Okzi-was? Beim Hinterhauptlappen handelt es sich um das Sehzentrum. Bei uns existiert diese direkte Datenautobahn vom Riechkolben in den visuellen Kortex nach aktuellem Wissensstand nicht und auch bei anderen Säugetieren war sie bislang unbekannt.
Das Team um Philippa Johnson interpretiert diese Nervenbahnen als Beweis dafür, dass Hunde regelrecht durch die Nase Mit-Sehen und sich so orientieren, wie wir uns in unbekannter Umgebung mit den Augen zurechtfinden. Da die Strukturen so ungewöhnlich deutlich ausgeprägt seien, könnten sie das gute Orientierungsvermögen erblindeter Hunde erklären. Diese seien sogar zu eigentlich visuell abhängigen Aufgaben wie Apport fähig. Für erblindete Zweibeiner ohne Hilfsmittel undenkbar.
Biosensor auf vier Beinen?
Was Hunde mit ihrem hervorragenden Geruchssinn leisten, steht außer Frage. Nachdenklich stimmt diese Entdeckung schon – aus der Arbeit von Artenspürhunden wissen wir beispielsweise, dass die Supernasen artspezifische Gerüche identifizieren können. Dabei zeigt sich häufig eine spannende Fähigkeit zur Abstraktion, die eigentlich gegen gängige Interpretationen von Lerntheorien spricht. Nach diesen Schemata müsste ein Hund jedes einzelne Geruchsbild erlernen, da beispielsweise Kot oder Speichel andere chemische Zusammensetzungen aufweisen als Haare, Hautschuppen oder Schweiß. Ein gut aufgebauter Spürhund erkennt jedoch ihm völlig fremde Geruchsquellen problemlos als „der Art zugehörig“ – er benötigt lediglich eine Information, ob diese Quelle für das Erlagen seiner Bestätigung ebenfalls relevant ist. Sehen Hunde beim Schnüffeln ein konkretes Abbild ihres Gegenübers? Das lässt sich aktuell nur vermuten. Jedenfalls scheinen ihre Bilder manchmal sehr von unseren visuellen Wahrnehmungen abzuweichen. Wir würden einfach den offensichtlich daliegenden Ball ansteuern, statt so lange außenrum zu schnüffeln, bis die Nase dran stößt.
Ein menschlicher Vergleich.
Wer den Roman „das Parfüm“ von Patrik Süsskind gelesen hat, begleitet einen sogenannten Synästheten bei seiner Entwicklung zum Serienmörder: er sieht seine Welt durch die Nase. Etwas weniger dramatisch kommt der Animationsfilm „Ratatouille“ daher – auch hier sieht der Hauptdarsteller in Gestalt einer Wanderratte Gerüche. In diesem Fall kulinarische Kreationen. Diese Inselbegabungen existieren bei einigen Menschen tatsächlich, meist sind hierbei Gehör oder Geschmacksinn mit der visuellen Wahrnehmung verknüpft. Tatsächlich gibt es über 80 bekannte Formen und etwa 4% unserer Bevölkerung sind von dieser Neurodiversität betroffen. Dabei muss es sich nicht zwangsläufig um isolierte Sinne handeln: manche Synästhetiker verbinden wahrgenommene Form- oder Schriftzeichen mit Farben. Oder schmecken rhythmische Tonfolgen, während einzelne Geräusche keine Synästhesie auslösen.
Philippa Johnson sieht in der Entdeckung des kaniden „Riechsehens“ ganz neue wissenschaftliche Fragestellungen über Lernen und Wahrnehmen. Vielleicht lassen sich im Laufe weiterer Forschung in unserem Gehirn verkümmerte Überreste solcher Verbindungen finden – oder hängt der Komplex der Synästhesie damit zusammen?
Auf jeden Fall hilft diese Idee bei der Vorstellung, wie unsere bellenden Teamkollegen unsere Welt wahrnehmen könnten. Und macht das gemeinsame Hobby nicht noch mehr Spaß, wenn wir uns bei der Nasenarbeit in diese faszinierende Welt mitnehmen lassen?
Quellen:
- https://www.sporthund.de/magazin/blog/kynologie/wenn-blinde-von-farben-sprechen
- „Extensive Connections of the Canine Olfactory Pathway Revealed by Tractography and Dissection“, Erica F. Andrews, Raluca Pascalau, Alexandra Horowitz, Gillian M. Lawrence, Philippa J. Johnson: Journal of Neuroscience 11 July 2022, JN-RM-2355-21; DOI: 10.1523/JNEUROSCI.2355-21.2022
- https://www.faz.net/aktuell/wissen/leben-gene/wie-hunde-beim-artenschutz-helfen-koennen-17284892.html
- https://www.diogenes.ch/leser/blog/2015/3/30-jahre-das-parfum-ein-erfolg-mit-folgen.html
- http://www.synaesthesie.org/de/synaesthesie/was-ist-synaesthesie-wissenschaftliche-version