Von notorischen Leinenpöblern und Gassirambos
Kein Einzelfall. Ihr seid mit eurem Leid nicht alleine.
Wer sich hierbei also angesprochen fühlt, gehört wahrscheinlich zu einer ganz besonderen Gattung Hundehalter. Ihr schleicht am liebsten nachts, nach Erlöschen der eventuell vorhandenen Straßenbeleuchtung und vorzugsweise in menschenleeren (und noch besser: von anderen Hundehaltern gemiedenen) Gefilden herum? Ihr habt euch ein regelrechtes Fledermaus-Sonar in Bezug auf Früherkennung potentieller Gefahren (in Form anderer Gassigängern) angeeignet und könnt blitzschnell eure Laufstrecken umstrukturieren? Auf euren Orientierungssinn wäre jeder Bundeswehr-Feldwebel neidisch? Das Fitnessstudio verdient keinen Cent an euch, weil Bauch-Beine-Po und vor allem die Oberarme tagtäglich trainiert werden – dank der neuen Vorschrift für die Hundehaltung mindestens zwei Mal am Tag?
Bingo. Da seid ihr voll mit dabei. Leider ist diese Situation vor allem eins: belastend. Und zwar für alle Beteiligten. Für Hundesportler schwingt oft noch der unterschwellige Vorwurf mit, den Hund aus egoistischen Gründen nicht an Alltagssituationen gewöhnt zu haben. Zu viel Zwingerhaltung, der arme Hund sei überfordert, der Schutzhund wird „scharf“ gemacht .. dass die meisten Leinenpöbler noch nie einen Hundeplatz betreten haben, interessiert bei solchen Vorurteilen herzlich wenig.
Leinenpöbler leben auf den täglichen Runden eine sogenannte „Leinenaggression“ aus. Dieser Handfest klingende Begriff aus der Kynologie umschreibt in Wirklichkeit ein ganzes Bündel an Ursachen und Zusammenhänge. Gemeinsam haben sie die sichtbare Auswirkung: der im Freilauf oder auf dem Platz gehorsame und umgängliche Hund wird an der Leine zu einem giftspeienden Rumpelstilzchen, sobald ein Artgenosse auf den Plan tritt.
Leider ist „Leinenaggression“ nicht wie eine Grippe kurierbar. Vielmehr bedarf es einer sorgfältigen Anamnese, damit der Straßenteil der nächsten Begleithundeprüfung nicht zum Desaster ausartet. Es macht auch wenig Sinn, hier nur die Symptomatik zu unterdrücken: Eine Begleithundeprüfung leistet der Hund einmal in seiner Sportkarriere. Gassi gehen sollte er jeden Tag – zwei Mal. Deswegen lohnt sich ein individualisiertes Training. Übrigens auch schon, bevor man sich nicht mehr auf die Straße wagt ..
Was löst diese „Aggression“ also aus?
Zunächst sollte bemerkt werden, dass es sich dabei nicht etwa um eine arttypische „Sonderform“ von Aggression handelt, sondern um eine „bedingte“ Verhaltensreaktion: Die Leine ist als Bedingung untrennbar mit der Randale verknüpft. Das bedeutet, irgendwo ist es zu einer entsprechenden Lernerfahrung gekommen und demzufolge lässt sich für die Zukunft auch umlernen. Gute Neuigkeiten, aber auch mit Aufwand verbunden.
Dann sind viele „Leinenpöbler“ oft gar nicht wirklich aggressiv im Sinne von feindselig oder von der Motivation getrieben, das Gegenüber zu verletzen oder zu vertreiben: sie sind zu aufgeregt, um die Begegnung anders zu meistern als bellend, zerrend, springend und manchmal auch wütend die Zähne zu zeigen. Aggressive Gebärden sind hierbei mehr ein frustriertes Ventil als ein bewusstes Handeln. Andere Kandidaten verwenden dieses wilde Gebaren als Abschreckung: sie sind unsicher, fühlen sich provoziert, körperlich eingeschränkt oder überfordert und manche Hunde haben auch nie gelernt, gelassen mit Artgenossen umzugehen. Weniger häufig als gedacht steckt eine tatsächliche Furcht dahinter: manchmal entwickelt ein Hund nach einer vorhergehenden Attacke eine beeindruckende Erstschlagmentalität, die sich auf Artgenossen generalisieren kann. Meistens bleibt das Toben und Wüten aber als Alltagsritual, obwohl der eigentliche Auslöser längst vergessen wurde. Auch gesundheitliche Probleme können solche „Gewohnheiten“ auslösen: Schmerzen, hormonelle Schwankungen oder organische Erkrankungen machen reizbarer, stressempfindlicher oder schlicht unsicher, was die Interaktion mit Artgenossen anbelangt.
Der Hundehalter "hängt auch mit drin"
Und zuletzt hängt an einer Leine auch zwangsläufig ein Hundehalter, der so einiges zu Eskalationen beitragen kann: wir beschränken mit dieser physischen Barriere schließlich den Aktionsradius unserer Hunde. Das verlangt von Haus aus einiges an Frustrationstoleranz. Dann geben wir häufig für den Hund unlogische Verhaltensweisen vor: frontale Annäherung auf engstem Raum (Gehweg oder Waldwege) in zügigem Tempo wirken aggressiv. Nehmen wir – höflich gegenüber dem anderen Hundehalter - die Leine kürzer und bringen Spannung auf die Leine, erhöht sich durch den sogenannten Oppositionsreflex auch der Muskeltonus des Hundes. Ein erhöhter Muskeltonus steht mit Adrenalinausschüttung, erhöhtem Blutdruck und Sypathikuserregung in Verbindung, welches wiederum Flucht- oder Angriffsverhalten einleitet. Und unsere eigene Stimmung kann sich sowohl physisch über kleinste Spannungsveränderungen der Leine wie auch über körperliches Ausdrucksverhalten übertragen: Hunde können Schweißproduktion, muskuläre Anspannung oder veränderte Pulsfrequenzen über ihre feinen Sinne wahrnehmen und als kooperative Beutegreifer tun sie dies auch, um mit ihren Sozialpartnern Rücksprache zu halten. Bewerten wir also eine Situation als angespannt, übernehmen Hunde diese Einschätzung sehr schnell. Dadurch gießen wir fleißig Öl ins Feuer.
Mit Diagnose und Verhaltensänderung zur Leinenführigkeit
Ein guter Hundetrainer tastet diese Parameter ab, bevor es zu einer „Diagnose“ kommt – und manchmal schlägt ein neuer Aufbau von „Leinenführigkeit“ zwei äußerst nervtötenden Fliegen mit derselben Klappe. Ein Hund, der lernt, seinem Zweibeiner im Radius der Leine entspannt und vertrauensvoll zu folgen, kann sich in einer Stresssituation deutlich besser auf diese Fertigkeit berufen. Lernen wir dann noch, für unseren Hund potentiell angespannte oder verunsichernde Situationen durch angepasstes Leinenhandling und vorausschauende Führung zu deeskalieren, verschwindet häufig die Motivation für die Randale. Klingt leichter, als die Umsetzung tatsächlich ist. Alte Gewohnheiten zu ändern fällt Mensch und Tier häufig schwer. Wir haben allerdings den Vorteil, mit einer konkreten Zielvorstellung ans Werk zu gehen und können dadurch unseren Hund gezielt anleiten und belohnen, statt aus einer frustrierten oder verärgerten Stimmung heraus Druck anzuwenden. Meist haben wir im Vorfeld nämlich sämtliche günstige Momente versäumt, die drohende Eskalation zu verhindern.
Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen, bei denen selbst ein versierter Verhaltenstherapeut tief in seiner Werkzeugkiste kramen muss. Je länger und stressbehafteter eine bedingte Reaktion im Alltag gezeigt wurde, umso mühsamer wird das Umlernen. Kommen hierbei noch traumatische Erlebnisse hinzu, wird der Vierbeiner vielleicht nie ganz entspannt auf engstem Raum an der Leine eine Begegnung meistern. Gezieltes Verhaltenstraining gibt ihm allerdings gesellschaftstaugliche Alternativen zum Rumpelstilzchentanz an die Pfoten. Auch Abbruchsignale können neu aufgebaut werden, um den Hund aus seinem Tunnelblick zu holen. Schließlich nutzt die beste Alternative nichts, wenn der Hund keinen Grund sieht, sich dafür zu entscheiden.
Hier profitiert auch der Hundehalter von einem umfassenderen Coaching: Wer es schafft, gelassen mit Rückschlägen umzugehen und auch die situativen Grenzen seines Hundes frühzeitig zu erkennen, nimmt viel Anspannung aus der Thematik. Das erleichtert dem Hund auch die Orientierung an seinem zweibeinigen Sozialpartner. Viele Menschen müssen zudem erst lernen, in unangenehmen Situationen als kompetenter Entscheidungsträger aufzutreten. Tiefsitzende Selbstzweifel sind keine Seltenheit. Je souveräner und wohlwollender wir uns in Stresssituationen verhalten, desto größer die Chance, dass der Hund diese Einstellung übernimmt.
Vorsorge ist immer besser als Nachsorge.
Das Bestehen der Begleithundeprüfung sollte niemals die alleinige Motivation sein, mit seinem Hund Leinenführigkeit und Alltagsbegegnungen zu üben. Auch unsere Sporthunde haben Freizeit und somit das Recht, alle dafür notwenigen Fertigkeiten zu erlernen. Die Mühe lohnt sich!
Quellen:
- Gülay Üncücü: „Der gelassene Hund“, Kosmos-Verlag
- www.canine-guardian.org - Seminarunterlagen „Hundebegleiter“