Minenfeld Gesellschaft

Kontrollwahn am anderen Ende der Leine: Wenn wir im Alltag nicht loslassen können

 

Die Gesellschaft – ein Mienenfeld für Hundehalter?

So ein Hundehalterleben ist kein Ponyhof: Verantwortung, wohin man sieht! Überall und spätestens seit der Nivellierung der Tierschutz-Hundeverordnung fühlen sich viele Besitzer mit einem Bein im Knast, sobald sie über den Tagesplan ihres Vierbeiners nachdenken. 

Arbeiten gehen und den Hund Zuhause lassen? Keine zwei Stunden Zeit fürs Gassi? Zu viel Programm für den Vierbeiner? Sport: Ja oder Nein? Im Auto mit auf den Hundeplatz – und dann? Garten, Balkon, an der Leine raus? Ableinen? Immer angeleint? Geschirr, Halsband, Noppenfolie, Fallschirm..?!

Wer sich seiner Rechten und Pflichten nicht wirklich sicher ist, erlebt schnell Ohnmachtsgefühle. Beschwerde der Gemeinde – Hund hat gebellt. Häufchen nicht weggeräumt. Hund im (klimatisierten) Auto gelassen. Und vielleicht hat er ja auch jemanden angefallen – oder es fühlt sich zumindest jemand belästigt, weil man unwissend durchs Selfie gelaufen ist?

So eine Rüge stellt immer ein Angriff auf die persönliche Kontrolle und Machtausübung dar. Es erschüttert unser Selbstvertrauen, da wir den direkten Einfluss auf einen Umstand verlieren. Jemand anders entscheidet, wir müssen mit den Konsequenzen klarkommen. Im sozialen Miteinander übersieht man häufig Grenzen – die sind schließlich selten eindeutig gekennzeichnet. „Ohnmacht ist Teil des menschlichen Lebens“, schreibt Business-Coach Jochen Mai. Und das, obwohl wir in unseren Breitengraden ein hohes Maß an persönlicher Autonomie zugestanden bekommen.

 

Freiheit ist Kontrollverlust

Unabhängigkeit, Entscheidungsfreiräume, offene Möglichkeiten – das klingt verlockend. Und so investieren wir viele Stunden darin, unsere Hunde zuverlässig von der Leine zu bekommen und reduzieren die „Gängelei“ auf ein Minimum. Und manchmal wird auch extra intensiv gerügt und gemaßregelt, damit der wohlerzogene Hund später diese „Freiheit“ genießen kann. So zumindest unsere Vorstellung vom idealen Hundeleben in unserer manchmal nicht so hundefreundlichen Gesellschaft.

Aber – was steckt überhaupt hinter diesem „höchsten Gut“?

Für einen Hund, der ja ohnehin relativ wenig Entscheidungen über seine Lebensgestaltung treffen kann, bedeuten Freiheiten oft mehr Unbehagen als Glück. Das liegt weniger an der Freiheit selbst – die würden die meisten Hunde doch ganz gerne genießen – sondern eher an der anspruchsvollen Gesamtsituation. Die „gesellschaftlichen Mienenfelder“ sind nun einmal nicht von Hunden für hündisches Zusammenleben geschaffen, sondern von überkandidelten Primaten, damit diese sich nicht bei der Ausübung ihrer Freizeitbeschäftigung gegenseitig die Köpfe einschlagen. Wenn es um gegenseitiges Begrenzen, Kontrollieren oder gar beschränkt werden dreht, merkt man es uns Zweibeinern schnell an an: so lange ist es noch nicht her, dass wir aus den Bäumen gefallen sind .. und der Hund steht dann in dieser nicht immer wohlwollenden Welt da und soll sich angepasst, angemessen und „gut“ verhalten. Alleine. Denn das haben wir ihm ja „eingebläut“.

 

GassirundeLoslassen: eine Sache des Selbstvertrauens

Hunde werden oft zur Projektionsfläche unserer gesellschaftlichen Straucheleien. Was wir nicht schaffen, wünschen wir unserem vierbeinigen Gefährten. Oder setzen es einfach voraus. Auch scheint das individuelle Lebensrisiko mit einer autoritäreren Neigung im Zusammenhang zu stehen: nicht nur benachteiligte Familien tendieren in der Kindererziehung dazu, auch Firmenchefs reagieren auf Druck, schlechte Erfahrungen oder Unsicherheit mit übersteigertem Kontrollbedürfnis und autoritärem Umgang.

Wer also eine gesunde Portion Selbstvertrauen besitzt, kann Kontrolle abgeben. Das bedeutet auch, die Bedürfnisse des Hundes wahrzunehmen und darauf zu vertrauen, dass Sozialisierung und Erziehung einen entspannten und sich freiwillig an uns orientierenden Sozialpartner hat heranwachsen lassen. 

Aber Vorsicht: Kontrolle abgeben bedeutet nicht, sich aus Verantwortung und Entscheidungsgewalt zu entziehen! Damit würden wir unseren Vierbeiner ausliefern. 

Freiheit und Loslassen kann also auch bedeuten, wir besitzen das Selbstvertrauen, jederzeit auf eine Situation einwirken zu können. Und das ist für den Hund letztendlich der verlässlichste Schutz im Alltag – auch wenn es bedeutet, dass wir ihn an die Leine nehmen oder gefährliche Situationen aktiv abwenden, statt sie hinzunehmen. Wir trauen uns zu, für uns und unseren Hund Entscheidungen zu treffen, die sowohl uns als auch andere Menschen vor Gefahren bewahren.

Und ja, manchmal muss man auch den Hund vor unseren Mitmenschen beschützen!

 

Loslassen im Hundesport

Auch wenn Sorgfalt und durchdachte Herangehensweise unbestreitbare Vorteile birgt: Zuviel tut niemandem gut. Menschlicher Kontrollwahn unterbindet das wichtige Bedürfnis, Neugier und kreative Lösungsstrategien für herausfordernde Situationen einzusetzen. Auch der Hund benötigt das Erleben von Selbstwirksamkeit, um Selbstvertrauen und ein ausgeglichenes Gefühl zur Umwelt zu entwickeln.

Schwierig wird, wenn der Mensch zu sehr in seinem Kontrollbedürfnis verstrickt ist: Fehler oder Unsicherheiten des Hundes lösen in uns Ohnmachtsgefühle aus. Wir merken das oft nicht so klar. Schließlich haben wir ein Ziel und wollen unnötige Umwege vermeiden. Und wer kennt nicht Hund XY, dem durch „Ausprobieren“ seine vielversprechende Sportkarriere versaut wurde ..?

Hier darf tief durchgeatmet werden: übermäßige Sorgen, problemzentriertes Denken und Angst vor Schuld sind keine hilfreichen Konstrukte, auch nicht im Sport. Oft ist es ein Ausdruck von belastenden Lebenssituationen. Manchmal lasten wir uns zu viel Verantwortung auf. Diese Themen können auf dem Hundeplatz nicht gelöst werden. Aber manchmal ist es genau diese Spiegelung im Umgang mit dem Hund, die uns zeigt, dass wir uns an anderer Stelle besser um uns kümmern sollten. Weil wir uns vielleicht zu viel zumuten. Und dagegen können wir etwas tun – der Hund wird es uns danken ..

 

 

 

Quellen:

Kneseback, O. „Sozialer Druck“ 2018, Pschyrembel online

Retzbach, J. „Belastendes Verantwortungsgefühl“ 2019, www.spektrum.de

Mai, J. : „Ohnmacht“; „Kontrollwahn“, 2021, www.karrierebibel.de

Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie (2005), 34, pp. 35-38 https://doi.org/10.1026/1616-3443.34.1.35.

Üncücü, G. „Der gelassene Hund“ 2019, Kosmos-Verlag

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