Mythos:
Kaiserschnittwelpe kann kein guter Sporthund werden?
Voller Vorfreude blickt Züchterin Ella auf den Monitor des Ultraschallgerätes. Wie viele es wohl werden, denkt sie, während sie ihre Hündin streichelt. Die Tierärztin lässt den Ultraschallkopf über Bellas Bauch kreisen. Gründlich. Immer wieder.
„Leider habe ich keine guten Nachrichten für Sie“, sagt die Tierärztin nach schier unerträglichen Minuten, „ich sehe sechs Fruchtblasen. Bei drei Embryos lässt sich keine Herztätigkeit feststellen und von den restlichen drei werden vermutlich zwei gerade resorbiert.“
BÄM! Das hat gesessen. Kein gewohntes Bild von den wie an einer Perlenschnur aufgereihten Fruchtblasen. Bella bekommt nur einen Welpen. Und das nach einem Deckakt wie im Lehrbuch. Es lässt sich auch nichts mehr zurechtträumen - bei dieser Koryphäe von Reproduktionsmedizinerin ist ein Irrtum quasi unmöglich. Auch lässt sich nicht mit dem falschen Zeitpunkt argumentieren. Der Termin für den Trächtigkeitsultraschall war genau richtig - zwischen dem 23. und 30. Tag nach dem Eisprung.
Aus der Traum vom großem Wurf. Aber heißt das jetzt auch: Aus der Traum vom guten Hund? Vom guten Sporthund?
Bevor Ella diesen Gedanken zu Ende denken kann, kommt der nächste Schlag. Es fällt das Wort, das nicht nur unter Züchtern von Gebrauchshunderassen fast so gefürchtet ist wie der Name Lord Voldemorts bei Harry Potter: Sectio caesarea. Kaiserschnitt. Jetzt also nicht nur ein Einzelkämpfer, sondern auch die bei Einfrüchtigkeit unvermeidliche Schnittentbindung. Der absolute Super-GAU! Ella ist den Tränen nahe.
Der Kaiserschnitt als Start ins Leben
Ein Einzelwelpe ist zwar durch das Überangebot im Mutterleib optimal entwickelt, häufig übergroß, aber dadurch selten in der Lage, die Geburt selbst auszulösen. Dann wird es gefährlich – nicht nur für den Welpen. Der medizinische Eingriff ist die einzige Lösung.
Auch wenn heutzutage nur noch selten Hündin oder Welpe bei einem Kaiserschnitt sterben, birgt der Eingriff doch gewisse Risiken: die Vollnarkose wirkt nicht nur auf die Mutterhündin, sondern auch auf den Nachwuchs, da sämtliche Narkosemittel die Plazentaschranke passieren. Allerdings kann durch eine Inhalationsnarkose, die schnell über die Lunge abgearbeitet werden kann, die Belastung für Mutterhündin und Welpen minimiert werden.
Von den Kosten ganz zu schweigen: ein Kaiserschnitt kann zwischen 183,37 EUR und 550,11 EUR kosten, je nachdem, ob der Tierarzt den einfachen oder den dreifachen Satz berechnet oder irgendwas dazwischen. (Quelle: GOT 2022, https://praxistipps.focus.de) Im Notdienst wird sogar der vierfache Satz fällig. Und das sind nur die Gebühren für den Kaiserschnitt. Hinzu kommen noch weitere Kosten wie beispielsweise für Vor-, Nach- und Blutuntersuchung, Narkose, eventuellen stationären Aufenthalt etc. Ergo: für den Kaiserschnitt einer Hündin können durchaus rasch weit über 1000 EUR fällig werden.
Aber das Geld spielt bei Ella, einer verantwortungsvollen Züchterin, die geringste Rolle. Sie fragt sich, wie sie ein solches „Einzelkind“ artgerecht aufziehen und fördern soll. Gerade aus dieser Verpaarung wollte sie einen Welpen behalten. Ein Welpe mit einer top Veranlagung für eine hundesportliche Karriere. Kann daraus jetzt noch ein guter Sporthund werden? Aus einem Welpen, der sich noch nicht einmal durch die Geburt ins Leben kämpfen musste, sondern von Menschenhand aus den nach einem Bauchschnitt vorgelagerten Gebärmutterhörnern „entwickelt“ wurde? Der trockengerieben und in eine Wärmekiste gebettet wurde, anstatt sich blind zur Zitze kämpfen zu müssen?
So lauten doch die Argumente derjenigen, die der Meinung sind, dass ein Kaiserschnitt-Welpe einer Gebrauchshunderasse nicht für den Sport taugt. Ein Weichei, eine Lusche oder eine Pfeife sei. Stimmt das vielleicht gar nicht? Ist es ein Vorurteil? Ein Mythos?
3x13
„Kaiserschnitt-Welpen können gute Sporthunde werden,“ sagt Birgit Esser, Züchterin des SV-Zwingers „vom Weggefährten“, und denkt dabei an ihren ersten Zuchtmietwurf. „Der R-Wurf von den Wannaer Höhen war so ein Wurf mit Kaiserschnitt. Nach sieben normal geborenen, properen Welpen konnte Imme nicht mehr und die restlichen sechs mussten per Kaiserschnitt entbunden werden.“ 13 Welpen an einem Freitag, dem Dreizehnten – also ein absoluter Pechwurf?! Von wegen. Ein Glückstag. Dieser Wurf war trotz Kaiserschnitt sehr erfolgreich: alle Welpen überlebten und entwickelten sich prächtig, sehr viele gingen in Sportlerhände und Zucht- und Hundesportkarrieren gingen aus ihm hervor. Ryo von den Wannaer Höhen mit Friedrich Biehler als Mannschaftsweltmeister bei der WUSV-Universalweltmeisterschaft und Teilnehmer bei der Siegerprüfung zum Beispiel oder Wurfschwester Ruby als erfolgreiche Schutzhündin. Riva von den Wannaer Höhen wurde die Stammmutter von Birgits Zwinger und brannte sich tief in ihr Herz ein: „Ich habe immer zu ihr gesagt, du wirst auch mindestens 13.“ Das hat Riva geschafft: Sie wurde 13 Jahre und neun Monate alt.
Aufzucht eines Einzelkindes
Happy End für einen großen Wurf, der per Kaiserschnitt entbunden wurde. Aber gibt´s das auch für die sogenannte Einfrüchtigkeit? Für den Einzelwelpen, der als „last man standing“ verlassen durch die abenteuerliche Wurfstätte hoppelt?
Birgit hat auch hier Erfahrungen gesammelt: „Wir hatten in unserem I-Wurf ein Einzelkind, ursprünglich waren es zwei. Aber einer hat es leider nicht geschafft. Somit ist Inaki allein aufgewachsen.“
Keine Spielkameraden, kein Kräftemessen, kein Kontaktliegen – außer mit Mama. Aber dafür hat ein Einzelwelpe immer freie Platzwahl an der Milchbar. Der gute Züchter wird aber darauf achten, dass er sich nicht nur an seiner Lieblingszapfstelle bedient, denn dann könnte es zu Milchstauungen und danach zu einer Milchdrüsenentzündung (Mastitis) bei der Mutterhündin kommen.
Futter: Check. Aber ohne Geschwister aufzuwachsen? Wie soll ein Züchter das ausgleichen?
„Wir haben viel mehr und viel früher mit Inaki was gemacht. Dinge, die sonst die Wurfgeschwister machen, wie Rangeln, Kämpfen etc. Das soziale Spiel haben wir mit unserer Hand nachgeahmt und so versucht, die Geschwister so gut es geht zu ersetzen“, erklärt Birgit.
Dadurch, dass ein Einzelwelpe ohne Spielkameraden aufwächst, kümmert sich der gute Züchter sehr intensiv um ihn, spielt viel mit ihm, präsentiert ihm neue Reize und macht Ausflüge. Beste Voraussetzungen für eine ganz besondere Bindung an den Menschen!
Und das wiederum ist die beste Voraussetzung, um im Hundesport als Team zu punkten.
Einzelkind „Inaki vom Weggefährten“ hatte schneller den Menschen als Bezugsperson. So ist es nicht verwunderlich, dass er sehr erfolgreich mit seiner Zollhundeführerin beim Flughafen Berlin arbeitet, begehungs- und umweltsicher ist. „Als kombinierter Diensthund muss er neben der Spürhundearbeit auch Unterordnung und Schutzdienst machen. Ist also mit einem Hund, der im Sport geführt wird, absolut vergleichbar“, so Birgit Esser.
Was bleibt Züchterin Ella nun? Cool bleiben und anpacken. Denn es ist ein Vorurteil, dass ein Kaiserschnitt-Welpe eine Pfeife im Hundesport ist/wird.
Wenn der Züchter alles dafür tut, die Wurfgeschwister zu ersetzen, den Welpen vielen Umweltreizen aussetzt und Stärken fördert, kann aus einem Kaiserschnitt-Welpen – auch aus einem Kaiserschnitt-Einzelkind – ein selbstbewusster und erfolgreicher Sport- oder Diensthund werden.