Wo endet zugewandte Empathie und wo beginnt eine wesensfremde Überinterpretation?
Des einen Sünde ist des anderen Tugend
„Ich beging die schlimmste Sünde der Verhaltensbiologie: Anthropomorphismus“, gestand die Primatenforscherin Jane Goodall einst, nachdem sie ihren wildlebenden Forschungsobjekten Namen statt den üblichen Nummern verlieh. Weg vom rein wissenschaftlichen Objekt hin zur eigenständigen, denkenden, fühlenden Persönlichkeit.
Für uns moderne Hundeliebhaber unvorstellbar: den Vierbeiner mit Nummern und objektiven Verhaltensbeschreibungen kategorisieren? Nüchterne Leistungsfeststellung mit Beurteilung aus dem ethologischen Katalog? Für Dr. Goodall bedeutete es einen Spießrutenlauf, sich gegen diese Konvention zu stellen. Den sie im Übrigen erfolgreich meisterte: heute gilt sie als Ikone der Verhaltensforschung.
Hinter der sperrigen Buchstabenkonstellation „Anthropomorphismus“ (griechisch: anthropos ‚Mensch‘ und morphē‚Form, Gestalt‘) steckt die berüchtigte Vermenschlichung. Nicht nur Verhaltensbiologen sehen darin eine Todsünde. Auch in unserer Hundeszene wird damit eine verpönte Verwischung der Grenzen zwischen Mensch und Tier angemahnt.
Wie berechtigt ist dieses Tabu? Und wo endet zugewandte Empathie und wo beginnt eine wesensfremde Überinterpretation?
Ist „Vermenschlichung“ zurecht verpönt?
Der Verhaltensbiologe Dr. Karsten Brensing, der 2018 das weltbekannte zoologische Nachschlagewerk „Brehms Tierleben“ von Alfred Brehm unter modernen wissenschaftlichen Gesichtspunkten aufarbeitete, hat eine klare Meinung dazu: „Bitte vermenschlicht die Tiere!“
In Wissenschaft und Philosophie galt dies zeitlebens als Affront. Der griechische Begriff geht zurück bis ins sechste Jahrhundert vor Christus, auf den Philosophen Xenophanes – dieser sah darin bereits eine Versündigung. Um eine neuzeitliche Erscheinung handelt es sich dabei also nicht, wenn Menschen ihren Mitlebewesen menschliche Eigenschaften zusprechen. Und ebenso wenig kann sich die vehemente Ablehnung dessen auf Errungenschaften moderner Wissenschaft berufen.
Im Gegenteil: die vermeintliche Einzigartigkeit der menschlichen Psyche und die darauf basierende Abwehr gegenüber tierischer Konkurrenz beeinflusst unsere Weltsicht bis in die heutige Forschung. Und damit auch unseren Umgang mit den Hunden, denn gerade die Verhaltensbiologie ist die Kerndisziplin solch einer strikten Trennung. Allerdings kann sich auch die Humanmedizin nicht davon freisprechen. Menschlichen Säuglingen wurde bis vor vierzig Jahren noch Schmerzempfinden ebenso abgesprochen wie Fischen und Amphibien.
Nüchtern betrachtet beginnt Vermenschlichung bereits darin, einem Mitlebewesen Gefühle, Schmerzen und Entscheidungsfähigkeit zuzugestehen. Da überrascht Dr. Brensings sympathischer Appell eher wenig. Aber haben wir bei diesem Begriff tatsächlich dasselbe Bild vor Augen?
„Menschliche Eigenschaften“ unter wissenschaftlicher Betrachtung
Der Hund als fühlender Partner anstelle der zufällig atmenden Reiz-Reaktions-Maschine vergangener Zeiten ist längst salonfähig geworden. Erheblich schwerer gestaltet sich eine klare Definition dieser „Gefühle“. Denn so ganz gelöst haben wir uns noch nicht von der Vorstellung, Denken und Fühlen fernab von instinktiven Reaktionen fände sich allein beim Homo Sapiens.
Dr. Brensing erklärt in einem TAZ-Interview, die Wissenschaft betrachte „Denken graduell“. Damit sind bestimmte Funktionen und Prozesse im Nervensystem gemeint, die auch schon vor dem modernen Homo Sapiens existiert haben. Auch logisches Problemlöseverhalten fällt darunter. Tiere lösen laut dem Verhaltensbiologen dieselben Tests wie menschliche Probanden.
„Wenn Tiere das auch können, dann denken und verarbeiten sie in dem Moment genauso wie wir“, argumentiert Dr. Brensing eindringlich. Er beschreibt Ratten, die über nachweisbare Selbsterkenntnis verfügen. Rabenvögel und Schimpansen, die erstaunliche „Theory of Mind“-Experimente bewältigen. Und auch aus der Kynologie kennen wir beeindruckende Ergebnisse, wie etwa die hündische Fähigkeit, das situative Wissen eines Menschen abzuschätzen und absichtliche Täuschung zu erkennen. Auch komplexere Gefühle wie Eifersucht lassen sich nach MRT-Scans kanider Studienteilnehmer an der Veterinäruniversität Wien zumindest nachvollziehen.
Wohingegen wir Menschen uns überwiegend mit denselben Gehirnbereichen durch unseren Alltag manövrieren, die höher entwickelte Tiere ebenso nutzen. Lediglich die typisch menschliche Verwendung abstrakter Sprache unterscheide sich von deren Gehirnaktivitäten.
Warum wir gerne Hunde vermenschlichen – und das auch sollen
Psychologisch gesehen ist der Anthropomorphismus ein unterbewusstes Werkzeug unserer Seele, um unsere Umwelt zu begreifen und beeinflussen zu lernen. Indem wir Verhaltensweisen in unserem Gegenüber erkennen, die uns vertraut sind, können wir uns in dieses Gegenüber hineinversetzen. Anstelle – wie bei einer Gefahrenwahrnehmung – zu flüchten oder anzugreifen. Das lässt empathisches Miteinander zu. Aber auch ein Gefühl von Kontrolle.
Auch hier offenbaren aktuelle Forschungen erstaunliche Zusammenhänge: Wer in früher Kindheit keine vertrauensvolle, sichere Bindung zu Bezugspersonen erfahren hat, neige eher zu diesem Kompensationsmechanismus. Wissenschaftler aus Chicago schließen daraus, dass das natürliche Bedürfnis nach Geselligkeit durch die negativen Erfahrungen mit Menschen auf tierische Mitlebewesen projiziert werde. Das birgt selbstverständlich die Gefahr, destruktive Beziehungsmuster oder emotionale Instabilität auf den Vierbeiner auszulagern.
Allerdings sind die Vorteile eines autoritativen Umganges mit unseren Hunden laut neuesten Erkenntnissen nicht zu leugnen: Selbstsicherheit und Resilienz gegenüber Stressoren hingen unter anderem von Beziehungserfahrungen mit den menschlichen Sozialpartnern ab. Dabei drehte es sich ebenso um das Erleben von emotionaler Wärme und Zugewandtheit wie dem Erfahren klarer Grenzen und Konsequenzen für das eigene Handeln.
Für unsere Hunde ist es also wichtig, im Rahmen ihrer Möglichkeiten Selbstverantwortung zugesprochen zu bekommen. Um dort eine gesunde Balance zu finden, benötigen wir sogar Vermenschlichung. Zu diesem Gleichgewicht gehört jedoch auch die Fähigkeit, unser eigenes Empfinden wahrzunehmen und die etwaige Andersartigkeit des tierischen Gegenübers zu respektieren. Das nennt sich dann emotionale Reife. Und die täte uns allen gut, auch im zwischenmenschlichen Umgang.
- Quellen:
- A.Brehm, K. Brensing: Brehms Tierleben: Die Gefühle der Tiere (2018)
- www.spektrum.de Metzler Philosophen-Lexikon „Xenophanes“
- Interview Dr. Karsten Brensing https://taz.de/Biologe-ueber-denkende-Lebewesen/!5832912/
- Langosch, Nele: „Wie viel Schmerzen spüren Babys?“ Gehirn & Geist 11/2020 Spektrum Verlag
- L. Lonardo, C. J. Völter, C. Lamm and L. Huber: Dogs follow human misleading suggestions more often when the informant has a false belief, (2021) https://doi.org/10.1098/rspb.2021.0906
- S. Karl, R. Sladky, C. Lamm, L. Huber, Neural Responses of Pet Dogs Witnessing Their Caregiver’s Positive Interactions with a Conspecific: An fMRI Study, Cerebral Cortex Communications, Volume 2, Issue 3, 2021, tgab047, https://doi.org/10.1093/texcom/tgab047
- Lauren Brubaker et al: Does Pet Parenting Style predict the social and problem-solving behavior of pet dogs (Canis lupus familiaris)?, Animal Cognition (2022). DOI: 10.1007/s10071-022-01694-6
- Epley, Nicholas & Waytz, Adam & Cacioppo, John. (2007). On Seeing Human: A Three-Factor Theory of Anthropomorphism. Psychological review. 114. 864-86. 10.1037/0033-295X.114.4.864.
Schöner Beitrag
Und weil ich früher nicht genug geliebt wurde, zieh ich heute meiner Luna einen Weihnachtspulli an?
Danke für diesen Blog Beitrag Fransi. ;-)